Im Rape & Revenge – Film ist die Lage normalerweise klar: nach einer Phase des Leids, sorgt das Opfer dafür, dass nun der Täter zum Opfer wird.
In ELLE ist die Ausgangssituation die gleiche, aber schon die ersten Reaktionen der Frau, die soeben auf dem Boden ihrer Wohnung brutal vergewaltigt wurde, zeigen, dass dies kein typischer Genrefilm ist.
Michèle geht nicht zur Polizei, sie bricht nicht in Tränen aus, sie ruft keine Freunde an. Sie nimmt ein Bad und geht am nächsten Tag zur Arbeit. Was anfangs nach Schockzustand schreit, entwickelt sich im Laufe des Films zum Charakterzug.
Das bedeutet aber nicht, dass sie das Geschehene kalt lässt. Sie will herausfinden, wer der maskierte Eindringling war, hat aber noch zahlreiche andere Baustellen in ihrem Leben.
In ihrer Softwarefirma, die sie erfolgreich leitet, taucht ein kompromittierendes Video auf, sie hat eine Affäre mit dem Mann ihrer Freundin (übrigens gespielt vom Deutschen Christian Berkel) und ihre Vergangenheit holt sie in Form ihres Vaters ein, der ein verurteilter Serienmörder ist.
Auf den ersten Blick erschließt sich nicht, wie das zusammenpassen soll, aber ELLE ist ein Film der wächst, teilweise erst nach der Sichtung, und in kein Schema passen will.
Beim genaueren Hinsehen wird aber deutlich, dass weniger eine lineare Handlung, als vielmehr Michèle, gespielt von Isabelle Huppert, im Fokus steht.
Die sieht zwar jünger aus als die 60+ Jahre, die in ihrem Ausweis stehen, ist aber eben auch im Film keine junge Frau mehr, weswegen auch ihre Figur anders angelegt ist.
Huppert wurde für ihre Rolle für den Oscar nominiert und das wohl weniger weil sie besonders auffällig spielt, sondern eher weil sie besonders stimmig spielt, was sich wiederum weniger durch einzelne Szenen, als den ganzen Film beweist.
Zunächst gehören ihr unsere Sympathien. Sie ist die schwache Frau, die von einem Unbekannten geschändet wird.
Ihre Figur hat aber mehr zu bieten als z.B. die Feelgood-Rache-Story um Jennifer Hill, wie wir sie aus I SPIT ON YOUR GRAVE kennen. Michèle ist vielschichtig, aber sie ist nicht eben sympathisch. Sie ist kühl, hart, abgebrüht und wie der Vergewaltiger, nimmt sie sich was sie will ohne andere zu fragen.
Regisseur von ELLE ist Paul Verhoeven, den viele schon im Ruhestand wähnten.
Mit seinen Großtaten aus dem fantastischen Bereich (TOTAL RECALL, ROBOCOP oder STARSHIP TROOPERS hat ELLE wenig gemein, eher schon mit seinen Drama/Thriller-lastigen Werken wie SHOWGIRLS oder BASIC INSTINCT.
Apropos: für die Hauptrolle in ELLE war offenbar auch BASIC INSTINCT-Ikone Sharon Stone im Gespräch, sie sagte aber wie diverse andere Hollywood-Aktreusen schnell ab.
Dies war wohl mit ein Grund, weswegen man ELLE nach Frankreich verlegte, wo man mal wieder keine Angst vor sperrigem Stoff hat.
Doch nur weil etwas anders ist, muss es nicht besser sein und ELLE ist trotz besagter Oscar-Nominierung, der Tatsache, dass es sich um eine Romanverfilmung handelt und einem starken imdb-Rating von über 7 alles andere als perfekt.
So darf man sich doch wundern, dass die Identität des Vergewaltigers nach 2/3 des Films aufgedeckt wird, das aber scheinbar NICHTS bewirkt. Weder Opfer noch Täter scheinen sich über das folgende Verhalten des anderen zu wundern, der Zuschauer aber schon und auch wenn man Michèle im psychologischen Sinne als Psychopathin sehen mag, bleiben manche Fragezeichen stehen.
Ein zweiter Kritikpunkt ist die Laufzeit von 130 Minuten, die es nun wirklich nicht gebraucht hätte.
Da scheint es fast so, als mache man etwas zu bemüht auf „Kunst“ und da gehört es wohl dazu, dass man zwar auf Überlänge pocht, aber trotzdem nicht auf den Punkt kommt.
Somit ist ELLE für den gemeinen Gore-Bauern oder das 12jährigen ANNABELLE-Fangirl sowieso uninteressant. Dies ist ein Film für Erwachsene (ein paar brutale Szenen gibt es trotzdem), ein Film ohne Genre-Schublade und etwas Geduld ist auch gefragt.