Wie sagt man es freundlich? Vielleicht so: NEVER LET GO ist nicht der Film, den man Alexandre Aja vor 20 Jahren zugetraut hätte.
Als Aja 2004 HIGH TENSION drehte, war er Teil etwas Neuem, etwas Frischem. Die New French Extremity brachte dem Horror den Schrecken zurück, den gelangweilte und langweilige US-Produktionen oft vermissen ließen.
Aber auch ein Aja wird älter und ruhiger und dass er mit Filmen wie HORNS oder OXYGEN zwar einerseits genrerelevant blieb, andererseits andere Schwerpunkte setzte, kann man ihm kaum vorwerfen, zumal die Ergebnisse meist wertig blieben. Dass der Franzose mit NEVER LET GO aber einen Film abliefert, der ihn als unehelichen Adoptiv-Schwiegersohn M. Night Shyamalans entlarvt, war nicht abzusehen.
Wovon handelt NEVER LET GO?
Eine Mutter lebt mit ihren beiden Söhnen Nolan und Samuel in einer abgelegenen Hütte in den Wäldern. „Das Böse“ hat sich ausgebreitet und die Familie ist nur im Haus sicher. Gehen sie nach draußen, müssen sie über lange Seite Kontakt zur schützenden Unterkunft halten. Ohne Seil würde schon eine Berührung des Bösen reichen, um dieses ins Haus zu bringen.
Wie man ahnen kann, erschwert dies die ohnehin nicht einfache Nahrungssuche und ein Kontakt zur Außenwelt besteht nicht.
Wir sehen also, wie unsere drei Protagonisten sich dicke Taue um die Hüften knoten und im Unterholz nach allerlei Kleintier, notfalls aber auch essbarer Baumrinde suchen.
Die Prämisse ist so dämlich wie sie klingt und erinnert an die letzten Werke Shyamalans (oder dessen Tochter), wo es offensichtlich nur noch darin ging, Protagonisten in die abwegigsten Situationen mit abstrusen Regeln und Voraussetzungen zu werfen und mal zu sehen, was passiert.
Das Böse ist irgendwo da draußen
Man muss sicher nicht alle Situationen in Horrorfilmen persönlich erlebt haben, um sie verstehen aber die Tür für ein Hineinversetzen einen Spalt weit aufzumachen, hätte geholfen.
Wenn du aber nie alleine im Wald gehaust; vor „dem Bösen“ Angst hattest; dir gar nicht sicher bist, was das eigentlich ist, wovor du Angst hast und täglich ein Seil umgeschnallt hast, um solche Leckereien wie Frösche zu essen, könnte es dir schwer fallen NEVER LET GO vollumfänglich zu greifen.
Vor allem, wenn unter den Figuren keine Sympathieträger sind.
Die Absicht des Films ist dabei schon zu erkennen, denn während die Mutter (hier schlicht als „Momma“ benannt) Dinge sieht und ihre Söhne vor den Gefahren warnt, müssen diese blind darauf vertrauen, dass die Alte nicht nur einen Schaden hat.
Dazu kommt dann eine gehörige Portion Religions-Analogie, wo es ja ebenfalls um blindes (Gott-)Vertrauen geht.
Das Problem: das zündet nicht. Dazu mehr im Spoiler-Bereich.
Was der Film hingegen (bewusst oder unbewusst) gut macht, ist den Eindruck zu vermitteln, dass es das Böse in den Wäldern gar nicht braucht, weil die drei Figuren sich schon selbst das Leben schwer genug machen. Das zeigt sich beispielsweise dann, wenn Nolan absichtlich auf Samuels Seil tritt und dieser einen Fels hinabfällt, während sich gleichzeitig die Verbindung zum Seil löst.
An dieser Stelle sollte man wohl den hinterfragen, wer für einen derart läppischen Knoten in einer potentiell lebensbedrohlichen Situation verantwortlich war, aber das ist ein anderes Thema.
Partnersuche auf Seillänge
Fraglich ist auch, wie Momma von der Stadt erzählen kann, wenn das Böse schon über Generationen da draußen sein Unwesen treibt. Und wo hat sie eigentlich den Vater ihrer Söhne kennengelernt?
Ja, NEVER LET GO stellt sich selbst seine Regeln auf und bricht sie nach Bedarf auch wieder.
Momma wird von Halle Berry gespielt und sie hat den Streifen auch produziert. Die Ausflüge der Oscar-Gewinnerin in den Thriller- und Horrorbereich sind durchwachsen (KIDNAP, GOTHICA). Schauspielerisch macht sie in diesem Fall wenig falsch, wird aber auch nicht gefordert und bleibt eher unauffällig.
Alexandre Aja konnte sein Potential in früheren Werken auch schon besser entfalten, fängt in NEVER LET GO aber nicht nur die verwucherte Umgebung hübsch ein, sondern kann auch den ein oder anderen Schreckmoment gekonnt platzieren.
Spoilerteil:
Mit großen Twists ist das immer so eine Sache. Sieht man sie früh und sei es nur zufällig, ist der halbe Spaß weg. NEVER LET GO wäre unter keinen Umständen ein toller Film, aber zumindest mir ging es so, dass sich die „große Frage“, ob das Böse nun real ist oder nur in Mommas Kopf existiert, einfach nie stellte. Das ist keinem besonderen Spürsinn geschuldet, sondern wohl eher meiner persönlichen Stumpfsinnigkeit, die falschen Fährten zu übersehen.
Wenn wir dann am Ende den Fotobeweis präsentiert bekommen, mag dem ein oder anderen die Kinnlade abfallen, doch mindestens stand diese Option stets im Raum…und lässt dennoch viele Fragen offen.
Spoilerende
Fazit zu NEVER LET GO
Dies ist kein Film von einem Anfänger, der sich im Laufe der Geschichte verhaspelt und verrennt, sondern ein routiniertes Werk von Fachkräften, das aber aus seiner an den Haaren herbeigezogenen Prämisse kaum etwas machen kann und die zweifelsohne vorhandenen Kompetenzen verpuffen lässt. Der Horror stellt einen eher kleinen Teil da, die Story ist wässrig und die Figuren bleiben fremd.
Hier kannst du dir NEVER LET GO ansehen